Die Stiftung für Schwerbehinderte Luzern SSBL ab 1983

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Leben im Wohnheim

Audio: Das Leben in Wohngruppen als Dauerherausforderung.
Eine Bewohnerin erzählt.*

Oft ist das Leben in einem Wohnheim die letzte Möglichkeit bei einer ohnehin schon eingeschränkten Wahl. Die Vorteile der professionellen Betreuung können dabei die Nachteile des ausserfamiliären Wohnens aufwiegen.

Die Vorstellung, dass Angehörige in ein Wohnheim eintreten müssen, löst oft grosses Unbehagen aus. Man verbindet damit eine lieb- oder emotionslose und fremdbestimmte Lebensform, die es solange wie möglich zu vermeiden gilt.

Das selbstbestimmte Leben in der eigenen Familie, in selbstgewählter Lebensgemeinschaft oder Individualität gilt als wünschbare Form. Die menschliche Nähe mit allen Möglichkeiten der emotionalen Zuwendung, die vielen Freiheiten des selbstbestimmten Lebens kann das bestorganisierte Heim nicht bieten. Ebenso kann innerhalb der betriebswirtschaftlichen Grenzen nie eine solch intensive Betreuung gewährleistet werden wie im Haus engagierter Eltern.

Wohnzimmer mit Loggia

Blick in ein Wohnzimmer mit Loggia. Fotografie: Jutta Vogel, Luzern, 2017. Archiv SSBL.

Chancen und Vorteile des Heimbetriebs

Dennoch gibt es Chancen und Vorteile des Heimbetriebes: die Professionalität der verschiedenen Betreuungsdisziplinen kann Entwicklungen ermöglichen und fördern. Neue Verfahren wie Bewohnerbefragung und Leistungsplanung bieten grosse Chancen, die Betreuung ständig zu verbessern. Das Wohnheim eröffnet Möglichkeiten für Gemeinschaft und soziale Kontakte, denn die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft ist eher im Abnehmen begriffen. Angewandte wissenschaftliche Erkenntnisse, Erfahrung und Wissensaustausch der verantwortlichen Betreuenden können in der Praxis wesentlich zur Stabilisierung und Verbesserung beitragen.

Nicht selten ist die SSBL letzte verbleibende Lebensstation für Menschen, die schon viele Aufenthalte in anderen Heimen oder der Psychiatrie hinter sich haben. Für Menschen mit schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung bietet die SSBL mit Fachleuten, die sie verstehen und entsprechend handeln können, sehr gute Lösungen.

Spannungsfelder in der Betreuung

Als Reaktion auf die Anstaltsbetriebe mit den riesigen Schlafsälen und der Disziplinierung durch Gruppenzwang entstanden ab 1950 zunehmend kleinere Wohnformationen mit dem Ziel, familienähnliche Strukturen und Lebensformen zu schaffen. Heute wird nicht mehr der Anspruch erhoben, die Beziehungen und Geborgenheit einer idealen Familie umzusetzen, sondern Hilfe und Betreuung als Dienstleistung im Lebensalltag zu bieten.

Ungeachtet der veränderten Paradigmen bestehen gewisse Spannungsfelder im Heimalltag, denen sich die SSBL immer wieder neu stellt: Individualität versus Gruppenzwang, Versorgen und Betreuen versus Wünsch- und Machbares, Schutz und Freiheit versus Vernachlässigen und Bevormunden.

Individualität versus Gruppenzwang

Das Leben in einer Gruppe erfordert gewisse Einschränkungen. Zwar haben alle Bewohnerinnen und Bewohner ein eigenes Schlafzimmer, dennoch können sie oft nicht wählen, mit wem sie zusammenleben. In der Praxis unternimmt die SSBL in diesem Dilemma Folgendes: es gibt keinen Zwang, an Gruppenveranstaltungen wie Ausflügen, Ferien, Tischgemeinschaft teilzunehmen. Der Wunsch des Bewohners oder der Bewohnerin hat Priorität.

Die Bedürfnisse der Wohngemeinschaft werden einzeln und in der Gruppe systematisch ermittelt. Durch Bewohnerbefragung, Leistungsplanung oder an Bewohnersitzungen werden Fragen des Zusammenlebens gemeinsam in einer Form und Sprache erörtert, die von den Bewohnern verstanden werden können.

„Versorgen“ versus Machbarkeit

Die früheren Anstalten hatten zum Ziel, die Gesellschaft von Problemen zu entlasten. Durch das „Versorgen“ wurden betroffene Menschen in Einrichtungen abgesondert. Aufgrund betriebswirtschaftlicher Zwänge besteht die Gefahr auch heute, nur das absolut Notwendigste zu leisten und den Menschen keine Wahlmöglichkeiten zu geben, sondern sie dem System Gruppe/Wohnheim auszusetzen.

Das heutige Verständnis will das vermeiden: Nicht der Mensch soll in das System gezwängt werden, sondern dieses soll ermöglichen, auf die Individualität jedes einzelnen einmaligen Menschen einzugehen. Dies stösst oft an Grenzen der Machbarkeit und bildet einen ständigen Auftrag an die Einrichtungen, ihre Praxis zu reflektieren.

Schutz versus Freiheit

Die Betreuung von Menschen mit schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung ist eine ständige Gratwanderung zwischen dem Schutz vor Gefahren und dem Bieten von möglichst viel Freiraum. Der Schutzgedanke kann beispielsweise eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit erfordern, die Menschen in ihrer Entfaltung oder im Genuss von Freuden behindern, weil sie sich sonst in Gefahr begeben würden. Diese Art von Bevormundung will keine Risiken eingehen. Andererseits kann eine Haltung des „laissez faire“ zu Schaden führen, weil Grenzen nicht mehr erkennbar oder zu weit gesteckt sind. So können gewisse Essgewohnheiten oder -bedürfnisse zu Übergewicht und Gesundheitsschäden führen. Zu wenig Aufsicht und Begleitung kann Übergriffe auf Mitbewohner zur Folgen haben.

 



*Aus: Anonymisierte Nacherzählung.