Das Kinderheim 1883–1989

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Der Alltag des Erziehungspersonals

Audio: «Während der Nacht macht die Schwester hie und da die Runde».
Berichte zum Alltag des Personals, 1930er- bis 1950er-Jahre.*

Während der Direktor recht luxuriös in der eigenen Wohnung im repräsentativen, schmucken Amtshaus wohnte, standen den Schwestern und den übrigen Angestellten bis in die 1960er-Jahre bescheidene Zimmer zur Verfügung.

Die Aufsichtsschwestern übernachteten in den Schlafsälen der Kinder in einer kleinen Zelle, die ein einfacher Bretterverschlag war. Aus deren Fenster konnten sie während der Nacht die Kinder beaufsichtigen.

Das Personal war knapp bemessen und der Arbeitsalltag bis in die 1960er-Jahre sehr streng. Die Abteilungsschwestern etwa waren Tag und Nacht meist allein für eine grosse Gruppe von Kindern zuständig. Während die Kinder in der Schule waren, warteten Flickarbeiten auf sie. Ihre 7-Tage-Woche liess ihnen wenig Freizeit, Erholung und Privatsphäre. Auch Ferien waren selten.

Die hohe Arbeitsbelastung des Personals konnte zu Erschöpfung und Überforderung führen, was neben verschiedenen anderen Faktoren wiederum Gewalt und Fehlverhalten begünstigte.

 

Grösse der Abteilungen am 31. Dezember 1947 (Jahresbericht Rathausen 1947)

Kindergarten 3 Mädchen, 14 Knaben

Untere Knabenabteilung 48 Knaben

Mittlere Knabenabteilung 26 Knaben

Obere Knabenabteilung 48 Knaben

Milchhof 12 Knaben

Mädchenabteilung 35 Mädchen

Total: 38 Mädchen und 148 Knaben

 

«Die Kinderschwestern sollten über den Sommer einmal für ein paar Wochen abgelöst werden, sonst versagen einigen die Nerven!»
Visitationsbericht Kloster Ingenbohl vom Februar 1948. Archiv Kloster Ingenbohl.

 

Gelübde

Mit ihrem Gehorsams- und Armutsgelübde verpflichteten sich die Schwestern zu Verzicht, Pflichttreue, Ausharren sowie unbedingtem Gehorsam und Unterwürfigkeit. Hierin liegt wohl auch ein Grund, dass sich die Schwestern nicht grundsätzlich gegen die strapaziösen Arbeitsverhältnisse zur Wehr setzten und bei erzieherischer Überforderung kaum um eine Versetzung baten.

Handlungsspielraum

Wenige Erziehungspersonen waren für eine grosse Schar von Kindern zuständig. Sie waren relativ unbeaufsichtigt und hatten dabei einen entsprechenden erzieherischen Handlungsspielraum. Diesen konnten sie nutzen, um ihre eigenen Erziehungsmethoden einzusetzen, durchaus auch in Ablehnung der herrschenden, oftmals repressiven Erziehungspraxis. Die Möglichkeit, exzessive Gewalt anzuwenden oder sexuelle Übergriffe auszuüben und zu verheimlichen, war damit aber auch gegeben.

Beaufsichtigung der Schlafsäle der Kinder

Die grossen Schlafsäle der Kinder mit bis zu 50 oder 60 eng nebeneinanderstehenden Betten liessen kaum Privatsphäre und Persönliches zu. Tag und Nacht lebten die Kinder in grossen Gruppen zusammen und wurden vom Personal überwacht. Freiräume wussten sich die einen Heimkinder trotzdem zu schaffen, wenn auch in einem begrenzten Rahmen.

Der Heimbetrieb war bis in die 1950er-Jahre als Massenbetrieb organisiert. Ein individuelles Eingehen auf die einzelnen Kinder war durch das knapp bemessene Erziehungspersonal nur beschränkt möglich und lange Zeit auch nicht vorgesehen.

Plan eines Schlafsaals

Die grossen Schlafsäle mit der kleinen Zelle der Aufsichtsperson wurden vereinzelt bis in die 1960er-Jahre genutzt. Plan des Kantonsbaumeisters zum Wiederaufbau der Anstalt Rathausen 1903. StALU, PLA 126/6.

 

Personalbestand des Kinderheims Rathausen am 31. Dezember 1947 bei gegen 200 Kindern (Jahresbericht Rathausen 1947):

Im Heim:

1 Direktor

1 Präfekt

2 Lehrer

20 Schwestern inkl. Oberin

8 weibliche Angestellte

 

In den Werkstätten:

1 Schreiner

1 Schuhmacher

1 Heizer

 

In der Landwirtschaft:

1 landwirtschaftlicher Verwalter und Frau (Milchhof)

1 Meisterknecht

1 Melker

1 Karrer

2 Landarbeiter

1 Taglöhner

1 Köchin

1 Hausbursche



*Aus: Erster Untersuchungsbericht der Expertenkommission vom 16.8.1949. StALU, A 853/20; Aus: Visitationsbericht Kloster Ingenbohl, 19. – 21. Januar 1957. Archiv Kloster Ingenbohl; Aus: Direktor an die Generaloberin von Ingenbohl, 3. Oktober 1940. Archiv Kloster Ingenbohl; Aus: Interview mit ehemaligem Heimkind von Rathausen, 1940er-Jahre; Aus: StALU, AKT 411/2984.