Zu Beginn des 21. Jahrhunderts, etliche Jahre nach der Schliessung des Kinderheims Rathausen, traten ehemalige Heimkinder an die Öffentlichkeit und erzählten von ihren Erinnerungen.
Viele von ihnen berichteten von Gewalt und Übergriffen. Auch zahlreiche andere Heime gerieten in die Kritik. Sie sind Teil einer Heimlandschaft, wie sie im 19. Jahrhundert bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Schweiz und anderen Ländern verbreitet war. Die Gesellschaft hatte lange Zeit weggeschaut und die Schatten der Vergangenheit verdrängt.
Die Stiftung für Schwerbehinderte Luzern SSBL, als heutige Besitzerin und Betreiberin der Anlage Rathausen, wird immer wieder mit der Vergangenheit des Ortes als Kinderheim konfrontiert. Die SSBL sowie der Regierungsrat des Kantons Luzern möchten mit dem Rundgang in Rathausen einen Ort des Erinnerns schaffen, der an die Schattenseiten der Heimerziehung des 19. und 20. Jahrhunderts in der Schweiz erinnert.
Die ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner sowie ihr Alltag stehen im Zentrum
Der Rundgang zum Kinderheim Rathausen will einige wichtige Aspekte und wesentliche Bezüge auf anschauliche Weise aufzeigen und gibt Einblicke in den Alltag und Betrieb des Heims. Erinnerungen von ehemaligen Rathauser Heimkindern bilden einen wichtigen Teil der Ausstellung. Die Interviews wurden im Rahmen der Studie «Bericht Kinderheime im Kanton Luzern» von 2012 durchgeführt. Das Schwergewicht des Rundgangs liegt auf den 1940er- und 1950er-Jahren, weil sich die meisten Interviewaussagen auf diese Zeit beziehen.
Der Rundgang zeigt, dass Heimerziehung ein komplexes Thema mit verschiedenen Schattierungen ist, das keine einfachen Antworten kennt. Er vermittelt einen Einblick in die Geschichte der Heimerziehung des 19. und 20. Jahrhunderts, die sich zwischen Fürsorge und Zwang bewegte (und auch heute bewegt).
Eine Gruppe von Heimkindern mit dem Direktor und Erzieherinnen, um 1895.
Fotograf unbekannt. ZHB Luzern Sondersammlung, LKb 17:4p.
Die Geschichte des Kinderheims Rathausen im Überblick
Die Anfänge: 1883 wurde die katholische «Verpflegungs- und Erziehungsanstalt armer Kinder» im ehemaligen Kloster Rathausen auf Antrag des Regierungsrates gegründet. Ehemalige Klöster wurden an so manchen Orten vom Staat zur Unterbringung einer Anstalt genutzt. Rathausen wurde mit über 200 Plätzen die grösste Erziehungsanstalt im Kanton Luzern. Auch schweizweit zählte sie zu den grossen Anstalten. Aufgenommen wurden Kinder im vorschul- und schulpflichtigen Alter bis 16 Jahre, die nach Alter und Geschlecht getrennt untergebracht wurden. Bis zur Umwandlung in eine private Stiftung 1951 war sie eine Mischung zwischen kantonaler und privater Anstalt.
Solche Erziehungsanstalten, die im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zahlreich entstanden, wurden von den Stiftern nicht zuletzt aus Gedanken der Fürsorge als Antwort auf die sozialen Probleme gegründet. Seit Beginn jedoch standen sie in einem Spannungsfeld von Fürsorge und Zwang.
Leitung und Personal: Ein katholischer Geistlicher (Priester) leitete die Anstalt Rathausen als Direktor. Schwestern aus Ingenbohl wurden für den Haushalt, die Kindererziehung und den Schulunterricht eingesetzt. Das Heim hatte auch einen zugewiesenen Anstaltsarzt. Tätig waren zudem ein Präfekt und sogenannt weltliches Personal (Lehrkräfte, Haushaltshilfen, Handwerker und Knechte).
Frühe Kritik an der Heimerziehung: Heime standen immer wieder in der Kritik. Manchmal kam es zu Heimskandalen, die öffentliches Aufsehen erregten. 1949 geriet die Anstalt Rathausen in die Kritik. Moniert wurden vor allem die rigide Strafpraxis, der Massenbetrieb und die mangelhafte Aus- und Weiterbildung des darüber hinaus zu knapp bemessenen Personals. Auch Vorwürfe von sexuellem Missbrauch von Heimkindern wurden laut.
Das «Kinderdörfli Rathausen» entsteht: Als Reaktion auf die Kritik wurden der Direktor entlassen, 1951 eine Stiftung eingerichtet und das Erziehungsheim in «Kinderdörfli Rathausen» umbenannt. Das «Familiensystem» wurde eingeführt, das die Kinder in kleinere Gruppen von rund 25 Kindern unterteilte. Im Laufe der 1950er- und 1960er-Jahre entstanden Pavillons ausserhalb der alten Klosteranlage. Die Kinderzahl wurde auf 150 reduziert.
Das Heim wird ein Sonderschulheim: Das Heim ging mit dem Rückzug des geistlichen Personals (1972 der Ingenbohler Schwestern, 1976 des Direktors) in die Hände von weltlichem Personal über. 1979 wurde das Kinderdörfli in ein von der Invalidenversicherung anerkanntes «Sonderschulheim für Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten» umgewandelt.
Die Schliessung des Heims: Die Anzahl der in Rathausen platzierten Kinder ging wie bei anderen Kinder- und Jugendheimen mit Beginn der 1970er-Jahre stark zurück. 1988 wurde der Betrieb eingestellt, 1989 gehörte das Kinderdörfli auch auf dem Papier der Vergangenheit an.