Das Kinderheim 1883–1989

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Strafformen

Audio: «Im ‹Chrutzi› hatte es kein Licht, keinen Stuhl, keinen Tisch, nichts».
Ehemalige Rathauser Heimkinder erinnern sich, 1930er- bis 1960er-Jahre.*

Es existierte eine breite Palette von Strafen, die von kleineren Sanktionen bis hin zu eigentlichen Gewaltexzessen reichten.

Praktiziert wurden – mit zeitlichen Unterschieden und von der Person abhängig – Arbeitsstrafen, wie das Jäten im Garten oder das Fegen von Böden, Körperstrafen, wie das Ziehen an den Haaren, das Beten des «Vaterunsers» auf den Knien mit ausgebreiteten Armen, das Knien auf scharfkantigen Linealen, das Einsperren in dunkle, unmöblierte Räume sowie das Unterwassertauchen des Kopfes, bis das Kind kaum mehr Luft erhielt. Hinzu kamen Schläge, die von Ohrfeigen bis hin zu teils exzessiven Prügeln mit Stock, Ledergurt, Schläuchen oder Teppichklopfern aus Stahldraht reichten.

Weitere Strafen waren der Ausschluss von gemeinsamen Ausflügen, Essensentzug, aber auch der Zwang, Erbrochenes aufessen zu müssen. Den Kindern wurde auch von Erziehenden, Vormündern oder den Eltern mit der Versetzung in ein «schlimmeres» Heim gedroht.

Kollektivstrafen und «Fluchring»

In der damaligen Heimerziehung wurden auch immer wieder Kollektivstrafen angewandt. War nicht klar, wer für eine «Tat» verantwortlich war, wurde eine ganze Gruppe von Kindern bestraft, auch jene, die nichts getan hatten. Dies sollte der Prävention dienen und die Solidarität unter den Kindern unterbinden.

Eine spezielle Strafform, die in Rathausen phasenweise angewendet wurde, ist der sogenannte «Fluchring». Ein Kind erhielt von einem anderen Kind den Ring, wenn es geflucht hatte. Am Abend wurden jeweils jene Kinder bestraft, die den Ring erhalten hatten. Auch abendliche sogenannte «Kontrollen» kamen phasenweise vor. Dabei meldeten die Erzieherinnen dem Direktor alle «fehlbaren» Kinder, die daraufhin vom Direktor vor den Augen der anderen bestraft wurden.

Die Arreststrafe

Das Einsperren in den Karzer (Arrestlokal) war ein gefürchtetes Strafmittel. Es war dort kalt, eng und dunkel. In den grösseren der beiden noch erhaltenen Bunker oder «Chrutzi», wie der Karzer auch genannt wurde, drang nur sehr spärlich Licht durch die kleine Luke hinein. Im kleinen Karzer, der Abstellkammer unter der Treppe, herrschte dunkle Nacht und bedrückende Enge. Es gab im Karzer keine Lampe, keinen Stuhl, keine Matratze, nur den nackten Boden und einen Topf, in den die Eingesperrten ihre Notdurft verrichten konnten.

Im Verlaufe der Zeit wurden unterschiedliche Räume für die Arreststrafe verwendet. Auch im Dachgeschoss gab es einen Raum, ebenso wurden phasenweise Kinder in den Keller eingesperrt. Die Arreststrafe ist in Interviews mit ehemaligen Rathauser Heimkindern bis in die 1960er-Jahre erwähnt.

 

Kritik an der Arreststrafe durch eine externe Expertenkommission, 1949

«Der ‹Bunker› ist eine Zelle mit sehr wenig Licht, eigentlich eine Dunkelzelle, die keinerlei Mobiliar enthält. Es soll vorgekommen sein, dass die Kinder ihre Bedürfnisse auf dem Boden verrichten mussten, weil man vergessen hatte, einen Topf in die Zelle zu bringen. Es bestehen zwei solcher Zellen im Erziehungsheim Rathausen und eine im Gutsbetrieb Milchhof [...]. Die Kinder werden je nach Vergehen 1-5 Stunden in diese Zellen eingesperrt. Im Milchhof ist es vorgekommen, dass ein Bub eine Nacht in der Zelle auf dem Boden verbringen musste.»
Erster Untersuchungsbericht der Expertenkommission vom 16.8.1949. StALU, A 853/20.
 

Bettnässen

Gegen das Bettnässen versuchte man mit verschiedensten Methoden anzugehen. Abends kein Wasser mehr trinken war eine davon, eine andere war das Aufwecken mitten in der Nacht. Einige Erzieherinnen unternahmen auch gar nichts dagegen und hofften, dass es sich von allein verflüchtigen würde.

Bettnässer erfuhren auch besondere Strafen und Demütigungen. Sie berichten von Schlägen, Blossstellen vor den anderen, Kontrollen der Unterwäsche und Baden in kaltem Wasser, was vor allem mit jüngeren Kindern geschah.

Arrestlokal

Fotoaufnahme des Arrestlokals im Kreuzgang vom 3. August 1949. StALU, A 706/431.


*Aus: Interviews mit ehemaligen Heimkindern von Rathausen, 1930er- bis 1960er-Jahre; Aus: Schreiben eines Mitglieds der Expertenkommission an den Bischof von Basel und Lugano vom 11.8.1949. StALU, AKT 411/2978.