Das Kinderheim 1883–1989

18

Belohnungen und Strafen

Audio: «Damit konnte ich mich beliebt machen».
Erinnerungen ehemaliger Rathauser Heimkinder, 1930er- bis 1950er-Jahre.*

Strafen und Belohnungen waren wesentliche Bestandteile der Erziehung.

Belohnungen gab es, wenn ein Kind von den Erziehenden geschätzt wurde oder sich besonders «gut» verhielt. Vielleicht hatte es sich aufmerksam an religiösen Aktivitäten beteiligt oder sich pünktlich an Anweisungen gehalten. Als Belohnung winkte ein wohlwollendes Wort, bevorzugte Behandlung oder auch einmal ein Stück Schokolade. Manche Kinder wurden privilegiert, erhielten etwa angenehmere Arbeiten, eine bessere Schulbildung oder durften ministrieren.

Strafen sind in den Erinnerungen vieler ehemaliger Heimkinder sehr präsent. Bestraft wurden bereits kleinste «Vergehen», wie Schwatzen oder Lachen im Essraum oder Schlafsaal trotz Schweigepflicht. Weitere Ursachen für Strafen waren etwa Ungehorsam, Murren, Fluchen, Stehlen von Obst, Rauchen, unerlaubter Ausgang, Fluchtversuche und Kontakt zum anderen Geschlecht. Oft wurden die Strafen als willkürlich empfunden. Manchmal wussten die Kinder nicht, weshalb sie bestraft wurden.

Erziehungsvorstellungen

Körperstrafen wurden zur Sühne und Besserung des Fehlbaren eingesetzt. Sie galten damals als wirksames, bei «aufmüpfigen» oder «renitenten» Kindern als unumgängliches Erziehungsmittel. Körperstrafen waren in Schule und Familie wie auch im Kinderheim bis in die 1960er-Jahre akzeptiert und verbreitet.

Das Ausmass der Bestrafungen und Misshandlungen von Heimkindern überstieg jedoch deutlich das seinerzeit Übliche und gesellschaftlich Akzeptierte. Schon damals gab es Zeitgenossen, die das übermässige und exzessive Strafen, wie es in Rathausen und anderen Heimen vorkam, kritisierten.

Unterschiede beim Personal

Unter dem Personal, geistlichem wie weltlichem, gab es grosse Unterschiede im Umgang mit Strafen. Während die einen kaum oder gar keine Körperstrafen anwandten, diese auch kritisierten, ist bei anderen intensives Strafen auszumachen, das sadistische Züge annehmen konnte. Exzessiv strafende Erziehende wurden in einzelnen Fällen ersetzt. Meist konnten sie aber jahrelang wirken, was trauma­tisierende Spuren bei betroffenen Kindern hinterliess.

Eine Ingenbohler Schwester kritisiert die Massenerziehung und das Strafsystem, 1948

«Die Oberin [...] ist umsichtig, gütig, [...] wirkt gut und ausgleichend durch ihre Ruhe und Selbstlosigkeit. Hingegen hat sie nicht die nötigen Voraussetzungen für ein so grosses und vor allem so sehr der Erneuerung bedürftiges Kinderheim. Sie gibt sich zufrieden mit dem Althergebrachten. Hingegen hat sie es fertiggebracht, dass die Kost der Kinder verbessert wurde und sie verpönt auch das viele Strafen, besonders das körperliche Strafen. [...]
Die Kinderschwestern sind überanstrengt. Sie haben Abteilungen von 30 bis zu 50 Kindern, was eine individuelle Betreuung einfach verunmöglicht. Es ist eine Massenerziehung. Sehr missfallen hat mir das sog. Kontrollsystem, wie es von HH. Direktor und HH. Präfekt durchgeführt wird. Das Strafen vor der ganzen Gruppe kann unmöglich erzieherisch sein. Leider gibt es einzelne Schwestern, die dieses System befürworten und fördern.
Die räumlichen Verhältnisse sind für ein Kinderheim absolut veraltet. Riesige Essräume, Schlafsäle, gar nichts Heimeliges, was an eine Familie erinnern würde.
Ich nahm den Eindruck einer wirklichen Anstalt, nicht von einem Heim mit. HH. Direktor [...] sagt, dass er eine Renovation wohl wünsche, dass er aber die Mittel dazu weder besitze noch zu bekommen hoffe.»
Visitationsbericht Kloster Ingenbohl 1948. Archiv Kloster Ingenbohl.

 

Das Kinderheim Rathausen wird untersucht, 1949

1949 geriet die Anstalt Rathausen in die Kritik, nachdem vom Luzerner Regierungsrat aufgrund von Hinweisen eines Amtsvormundes eine Untersuchung eingeleitet worden war. Es war besonders die Strafpraxis, die stark kritisiert wurde. Der damalige Direktor, der seit 1926 dem Heim vorstand, wurde in der Folge entlassen.

«Rathausen trägt mit Unrecht den Namen Heim. Es ist eine Anstalt alten Stils, ein Massenbetrieb, bei dem die individuelle Behandlung der Kinder zu kurz kommt und die pädagogische Haltung in einem undifferenzierten System festgehalten ist. An positiven Erziehungsmitteln wie Vergünstigungen, Pflege des Gemütes, der Wohn­lichkeit, des Aesthetischen, ist recht wenig zu spüren, während die negativen Erziehungsmittel wie Strafen einen zu grossen Raum einnehmen. Die Strafen sind gemessen an den Vergehen zu hart und zu undifferenziert. Die Motive der einzelnen Vergehen werden zu wenig berücksichtigt, es scheint überhaupt nicht individuell gestraft zu werden. [...] Man hat den Eindruck, dass diese primitiven Strafmassnahmen die hauptsächlichsten pädagogischen Handlungen darstellen. Die Strafe ist in Rathausen zu einer Gewohnheit, zu einem System geworden, auch sie ist ein Teil des in einer Schablone festgefahrenen Massenbetriebes.»
Erster Untersuchungsbericht der Expertenkommission vom 16.8.1949. StALU, A 853/20.

 



*Aus: Interviews mit ehemaligen Heimkindern von Rathausen, 1930er- bis 1950er-Jahre.