Das Kinderheim 1883–1989

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Umgang mit den Heimkindern

Audio: «Wir haben nicht gewusst, an wen wir uns wenden sollten».
Ehemalige Rathauser Heimkinder erinnern sich, 1930er- bis 1960er-Jahre.*

Der Heimalltag war stark durch die Art und Weise geprägt, wie die Angestellten mit den Kindern umgingen. In Berichten ehemaliger Heimkinder ist oft von Strafen, körperlichen und psychischen Misshandlungen, aber auch sexuellen Übergriffen die Rede, unter denen viele litten. Solche Erlebnisse konnten traumatisierend wirken und lebenslange Wunden hinterlassen.

Unter dem Heimpersonal gab es grosse Unterschiede im Umgang mit den Kindern. Die einen werden etwa als streng, rabiat, bösartig, sadistisch, unwirsch oder nervös, andere als liebevoll, freundlich, herzlich, gerecht oder umgänglich beschrieben. Die Verhaltensweise einer Erziehungsperson wurde von einzelnen Kindern mitunter sehr unterschiedlich wahrgenommen und erinnert. Auch wird von Erziehenden berichtet, die Lieblingskinder hatten und diese offenkundig bevorzugten, andere hingegen wegen ihres Verhaltens oder aus kaum ersichtlichen Gründen nicht leiden konnten und drangsalierten.

Unterschiedliche Erfahrungen

Nicht alle Heimkinder waren von physischer und psychischer Gewalt betroffen. Während die einen Missbrauch und Übergriffe erfuhren, einige eigentliche Prügelknaben und Sündenböcke waren, erlebten andere kaum oder keine Gewalt. Einige Interviewte berichteten, dass jene Kinder weniger betroffen waren, die aus besseren Verhältnissen stammten oder bei denen ein Vormund oder Elternteil oft im Heim vorbeikam und zum Rechten sah.

Psychische Misshandlungen und emotionale Kälte

In den Erinnerungen vieler ehemaliger Heimkinder präsent sind die emotionale Kälte und Lieblosigkeit, die sie im Heim erlebten, sowie psychische Misshandlungen durch Angestellte. Sie erfuhren etwa Abwertung, Demütigung, geringe oder fehlende Unterstützung, Diskriminierung, Vernachlässigung, fehlende Zuneigung, Nötigung oder Ablehnung und fühlten sich dabei alleingelassen und den Erziehenden hilflos ausgeliefert. Für manche waren die emotionalen Misshandlungen schlimmer als die körperlichen.

Zuwendung und Förderung

Es gab auch Angestellte, die einen positiven Umgang mit den Kindern pflegten. In guter Erinnerung blieben beispielsweise ein Erlebnis mit einer Schwester, die einem Kind als Trost ein Stück Schokolade schenkte, oder mit dem Direktor, der sich für ein Kind einsetzte. Einige Interviewte erlebten Zuwendung, manchmal Wärme und Geborgenheit, sie erfuhren Anerkennung, Unterstützung, Akzeptanz oder wurden gefördert.

 

«Das war eine so liebe Schwester. Und als es hiess, sie werde nach Ingenbohl versetzt, weinte die ganze Gruppe. Die nächste Schwester war dann eine ganz Böse. Das war eine Katastrophe.»
Interview ehemaliges Heimkind, in Rathausen 1950er- /1960er-Jahre.

 

Sexuelle Übergriffe

Im Heim kam es auch zu sexuellem Missbrauch. Von den teils massiven, über längere Zeit hinweg dauernden Übergriffen waren Knaben und Mädchen betroffen. Ver­übt wurden die Taten von Männern und von Frauen. Es finden sich in Interviews oft Hinweise zu geistlichen Direktoren und Schwestern. In schriftlichen Quellen ist neben geistlichem Personal auch weltliches genannt. Wie viele Kinder von sexuellen Übergriffen betroffen waren, ist kaum mehr zu bemessen, da dies im Verborgenen geschah und stark tabuisiert wurde.

Betroffene berichten von Ekel und Scham sowie von der traumatisierenden Wirkung der Übergriffe. Meist wussten die Kinder nicht genau, was mit ihnen geschah, waren sie doch nicht aufgeklärt. Umso schutzloser waren sie den Erwachsenen ausgeliefert. Viele hatten Angst, sich zu wehren, da ihnen von der Täterschaft gedroht wurde.

Totschweigen von sexuellen Übergriffen

Neben persönlichem Versagen der Täterinnen und Täter werden bei sexuellen Übergriffen auch strukturelle Probleme sichtbar. Der geschlossene Charakter von Anstalten begünstigte das Ausleben sexueller Perversitäten. Ebenso wirkten sich die hierarchischen Strukturen, fehlende Transparenz und zu wenig Personal negativ aus. Eine Sensibilität gegenüber Übergriffen durch das Personal war kaum vorhanden. Das Thema wurde totgeschwiegen und tabuisiert. Vielmehr standen die Heimkinder im Visier, galten sie doch rasch als «sittlich verwahrlost» und «triebhaft». Vertrauten sich Heimkinder einer erwachsenen Person innerhalb oder ausserhalb des Heims an, fanden sie häufig keine Unterstützung und wurden der Lüge bezichtigt.

Unantastbarkeit von geistlichen Täterinnen und Tätern

Gerade der Direktor als Priester und die Schwestern galten praktisch als unantastbar. Kamen dennoch Übergriffe ans Tageslicht, wurden die geistlichen Täterinnen oder Täter an einen anderen Arbeitsort versetzt oder in seltenen Fällen aus der Klostergemeinschaft oder dem Amt entlassen. Die Angelegenheit wurde praktisch als «Familiengeheimnis» behandelt und gegen aussen möglichst vertuscht. Eine gerichtliche Untersuchung mussten die Täterinnen und Täter kaum fürchten.



*Aus: Interviews mit ehemaligen Heimkindern von Rathausen, 1930er- bis 1960er-Jahre.