In den Gängen und Sälen des Kinderheims begegnete man vielerorts Heiligenfiguren und -bildern. Religion nahm im Heimalltag des katholischen Kinderheims Rathausen bis in die 1960er-Jahre einen zentralen Platz ein.
Der Alltag war geprägt vom meist täglichen Kirchgang, den gemeinsamen Gebeten wie auch regelmässigem Beichten. Besonders wichtig waren die kirchlichen Feste, ebenso der Religionsunterricht in der Schule. Der Alltag im «Rhythmus der Glocken» war damals bestimmend für die gesamte katholische Gesellschaft.
Es herrschte bis in die 1950er-Jahre ein autoritäres Glaubensverständnis vor. Leiden und Strafe nahmen einen festen Platz darin ein. Auch in Rathausen wurde vielfach im Geiste der Zeit eine jenseitsgerichtete und oft auch angstbetonte Frömmigkeit weitergegeben. Den Glauben an einen allwissenden und strafenden Gott und an mahnende Schutzengel lobte der Direktor von Rathausen als «wirksames» Erziehungsmittel. Auch die katholische Heimpädagogik war durch die Theologie geprägt.
Für die einen Halt, für die anderen Pflicht
Ehemalige Heimkinder erlebten die Religion im Heimalltag unterschiedlich. Für die einen bot sie Schutz und Halt, den sie beispielsweise in einer Marienfigur fanden; andere langweilten sich oder gingen auf Distanz und kritisierten im Erwachsenenalter eine «Doppelzüngigkeit». Sie monierten, dass statt der gepriesenen Nächstenliebe Unterdrückung, Gewalt, Willkür und Strafe herrschte.
Die Schwestern und ihre religiösen Pflichten
Die Schwestern waren an ihre religiösen Pflichten gebunden, die jedoch im hektischen Heimalltag mit den vielen Aufgaben und langen Arbeitstagen wenig Platz fanden. Wie bei anderen katholischen Schwesternkongregationen, stand bei den Ingenbohler Schwestern die soziale Arbeit im Zentrum. Diese war gleichzeitig Ausdruck ihres religiösen Selbstverständnisses.
Erziehung unter kirchlicher Obhut
Mit der Beschäftigung von vorwiegend geistlichem Erziehungspersonal und einem katholischen Geistlichen als Direktor fügte sich Rathausen in die damalige Heimlandschaft ein. Das Erziehungs- und Pflegewesen lag traditionsgemäss lange Zeit in kirchlicher Hand.
In katholischen Gebieten waren gerade Angehörige von katholischen Schwesternkongregationen bis weit ins 20. Jahrhundert beliebte Arbeitskräfte in Krankenheimen, Altersasylen oder Kinderheimen. Im Sinne ihrer Gründer sahen sie ihre Hauptaufgabe in der sozialen Arbeit. Sie arbeiteten äusserst kostengünstig, was auch ausgenutzt wurde. Und sie waren Garanten für eine strikte katholische Erziehung.
Katholische Schwesternkongregationen
Drei der bedeutendsten schweizerischen katholischen Schwesternkongregationen aus dem 19. Jahrhundert waren die Institute von Ingenbohl, Menzingen sowie Baldegg. Im 20. Jahrhundert kamen neue hinzu, etwa die Schwesterngemeinschaft des Seraphischen Liebeswerkes. In reformierten Gebieten spielten die Diakonissen eine ähnliche Rolle.
Der Eintritt in eine dieser Kongregationen ermöglichte jungen Frauen, sich beruflich auszubilden und im sozialen und pädagogischen Bereich Aufgabenfelder zu übernehmen, die ihnen ansonsten kaum zugänglich gewesen wären.